Heute erscheint es in Anbetracht der großen
Teilnehmerzahlen nicht mehr vorstellbar,
einen Bibliothekartag in Tübingen zu
veranstalten. Vor 60 Jahren, vom 12. bis 15.
Juni 1935, hat jedoch einmal ein
Bibliothekartag in Tübingen stattgefunden. Im
Jahrgang 52 (1935) der "Zeitschrift für
Bibliothekswesen" findet man neben dem
Programm einen ausführlichen Bericht über
diese Veranstaltung von Axel von Harnack,
außerdem sind dort auch sämtliche Vorträge
abgedruckt. Etwa 140 Teilnehmer fanden sich
damals in Tübingen ein - eine im Vergleich zu
heutigen Teilnehmerzahlen überschaubare
Schar von Kollegen.
Bereits am Vorabend versammelten sich die Teilnehmer im Silchersaal des "Museums" zu einem Begrüßungsempfang. Neben anderen Darbietungen wurden dort auch Gedichte in schwäbischer Mundart vorgetragen. Der offizielle Teil begann am nächsten Tag im Hörsaal 9 der Universität. Nach den obligatorischen Grußworten (u.a. durch den Oberbürgermeister Scheef und den Rektor der Universität, Prof. Focke) hielt der damalige Direktor der UBT, Georg Leyh (1877-1968), den Eröffnungsvortrag zum Thema "Überproduktion im Zeitschriftenwesen und Stand der Zeitschriftenreform". Das Tagungsprogramm umfaßte insgesamt elf Fachvorträge. Auch der gesellige Teil kam nicht zu kurz. Zwei Ausflüge führten die Teilnehmer nach Bebenhausen und zum Schloß Lichtenstein. Außerdem gab es einen Serenadenabend im "festlich erleuchteten Schloßhof" von Hohentübingen. Für die Damen wurde zusätzlich noch eine Stadtführung angeboten.
Die Fachvorträge behandelten neben bibliothekshistorischen Themen manche Fragen, die auch noch heute diskutiert werden (Internationaler Leihverkehr, Zeitschriftenreform, Normung, Dokumentation). Andere Vorträge machen den unmittelbaren zeitgeschichtlichen Bezug deutlich. Da ging es um verbotenes Schrifttum, Luftschutz und Bibliotheken, Bibliothekswesen der deutschen Wehrmacht. Beim abschließenden Abendessen im Silchersaal des "Museums" wurde u.a. eine Ansprache auf den "Führer und Reichskanzler" gehalten.
Schließlich gehörte zum Bibliothekartag auch die Mitgliederversammlung des VDB, der damals insgesamt 626 Mitglieder umfaßte. Der Mitgliedsbeitrag betrug fünf Reichsmark. Unter anderem befaßten sich die Mitglieder mit der Frage des VDB-Beitritts zur Reichsschrifttumskammer, die jedoch nicht in Frage kam, weil der VDB als "wissenschaftlicher Fachverein" dem Geschäftsbereich des Reichsministers für Wissenschaft etc. unterstand. Des weiteren wurde die Umwandlung der Vereinssatzung "im Sinne des Führerprinzips" behandelt. Schließlich wählte die Versammlung Georg Leyh (Tübingen) zum neuen Vereinsvorsitzenden.
Dr. Wilfried Lagler |